Heimat Schaffen - Wurzeln Schlagen: Fachtagung im Berufsbildungswerk Waldwinkel

Veröffentlicht am: 23. April 2015

Durch das Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung im Jahr 2009 in Deutschland werden Träger, Bildungseinrichtungen, medizinische, fachdienstliche und pädagogische Mitarbeiter/innen der Behindertenhilfe sowie die Gesellschaft vor immer wieder neue Herausforderungen gestellt. Junge Menschen mit Bindungsstörungen und traumatischen Erfahrungen müssen unsere gesellschaftlichen Anforderungen, wie es eine schulische und berufliche Ausbildung erfordern, bewältigen können. Sie müssen eine für Sie und den gesellschaftlichen Bedingungen angepasste Tagesstruktur leben und gestalten können.

Um diese Themen kritisch zu begleiten und zu unterstützen, veranstaltete das Berufsbildungswerk Waldwinkel am 26. März 2015 eine wissenschaftliche Fachtagung mit hochkarätigen Referenten aus dem Fachbereich der Psychologie. Dr. Lothar Unzner, Dipl. Psychologe und Prof. Dr. Andrea Kerres, Psych. Psychotherapeutin, Traumatherapeutin und Supervisorin, präsentierten Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen auf der Fachtagung.

Zielgruppe

Die Veranstaltung richtete sich an Interessierte und Fachleute in sozialen Diensten, Einrichtungen und Fachkliniken, an die Leistungs- und Maßnahmeträger der Behindertenhilfe, an die Verbände und die Entscheidungsträger/innen in Politik und Wirtschaft.

Inhalt

Da das Fachpublikum bereits vielfältige Erfahrungen zu den Themen bindungsgestörtes und/oder traumatisiertes Klientel mitbrachte, bot die Fachtagung die Möglichkeit, sich in die gegenwärtigen Entwicklungen der Bindungstheorie und Traumapädagogik Einblick zu verschaffen und an den Erfahrungen der Referenten teilzuhaben. Von Interesse waren dabei sowohl konkrete praktische Erfahrungen als auch fundierte wissenschaftliche Studien.

Programm

Nach der Begrüßung der Gäste durch Klaus Ortner, Gesamtleiter des Berufsbildungswerkes Waldwinkel, leitete Stephan Kneißl, Dipl. Soz. Päd. (FH) des BBWs, mit einem botanischen Exkurs das Veranstaltungsthema „Heimat schaffen – Wurzeln schlagen“ ein. Seine Baumbilder veranschaulichten „diese, jene, solche und andere“ Baumarten und boten dem Publikum einen Baumüberblick quer über den Globus, mit dem Ziel der Verdeutlichung, dass jeder Baum Wurzeln schlagen kann sofern die atmosphärischen Rahmenbedingungen für ihn passen.

In der thematischen Einführung griff Andrea Maria Fischer, Psychotherapeutin (KJP) und Leiterin der Fachdienste im BBW, die botanischen Gesetzmäßigkeiten abermals auf, um die Bedürfnisse einer positiven Lebensentwicklung zu verdeutlichen. Wurzeln, egal ob pflanzlich oder menschlich, benötigen einen nährstoffreichen Boden, sie brauchen Raum um sich entfalten zu können, sie brauchen Heimat um zu wachsen. Für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zum Beispiel ist Heimat aktuell noch nicht greifbar. Derzeit müssen sich die jungen Männer in einer komplett für sie neuen Umgebung zu Recht finden. Sie kommen teils aus Kriegsgebieten und die Bindung zu deren Familien sind unterbrochen oder existieren nicht mehr. Ihre gewohnten sozialen Netzwerke funktionieren nicht mehr. Ihre psychischen Probleme, resultierend aus Kriegserfahrung, Misshandlungen usw., sorgen dafür, sich nicht zu Hause fühlen zu können. Finden Menschen mit solch schlimmen Erfahrungen jedoch - bildlich gesprochen - guten Boden und Raum für Entwicklung, können Netzwerke wieder gedeihen, traumatische Erlebnisse bearbeitet werden und Integration kann gelingen.

Im Fachvortrag „Bedeutung der Bindung im Lebenslauf“ erläuterte Dr. Lothar Unzner, Dipl. Psychologe, auf welchen Säulen die Bindungstheorie fußt. Als Vorsitzender des Vereins Arbeitsstelle Frühförderung Bayern e.V im Landkreis Erding, beschäftigt er sich intensiv mit dieser Thematik. Die Bindungstheorie beschäftigt sich vorrangig mit dem Bindungsverhalten – und der daraus resultierenden Bindungsqualität – das ein Säugling zu seiner direkten Bezugsperson (Mutter oder Vater) entwickelt. Abhängig von diversen Faktoren entwickelt sich das Bindungsverhalten eines Kindes und kann bereits im Kleinkindalter als „sicher, vermeidend, ambivalent oder desorganisiert“ eingestuft werden. Als Begründer der Bindungstheorie gilt John Bowlby (1910-1993). Er und die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth waren die Hauptvertreter des noch jungen Forschungsbereichs der Bindungstheorie.

Leslie Philibert, B.A. (Hons). Dipl Soz Päd. im BBW, an der Gitarre und Great Yuwa Osagie, Auszubildender 2. Lehrjahr Hotelfachmann aus Nigeria, Gesang, berührten mit Ihrem Song „Home again“ die Zuhörerschaft und leiteten damit den zweiten Fachvortrag ein.

Prof. Dr. Andea Kerres, Psych. Psychotherapeutin, Traumatherapeutin und Supervisorin, verantwortet den Studienbereich 6 Projekte der Katholischen Stiftungsfachhochschule München und leitet die dortige psychosoziale Beratungsstelle. Sie referierte in ihrem Fachvortrag über „Posttraumatische Belastungsstörungen“. Mit Beispielen aus ihrer Praxis konnte sie den theoretischen Ansätzen Realitätsbezug auf die praktische Arbeit mit jungen Menschen verleihen, was bei den Tagungsgästen großen Anklang fand. Traumatisierungen passieren täglich, sie sind Teil der Lebensgeschichte eines Menschen und aus diesem Grund brauchen wir die Traumapädagogik (TP). TP kann z.B. Antworten auf Verhaltensweisen und Betreuungsfragen geben, sie kann auch die Arbeitszufriedenheit von Mitarbeitern erhöhen. Die Arbeit mit traumatisierten Menschen braucht einen sicheren Ort und viele gute Bindungen. Als wichtige Bausteine der TP benannte sie unter anderem die Psychoedukation (warum ticke ich so wie ich ticke?) und die Stabilisierung (Selbstwirksamkeitskonzept, Kultur des sicheren Ortes schaffen, Distanzierungstechniken anwenden) des Patienten. Hierbei erwähnte sie ein Zitat, das in ihrer Arbeit mit traumatisierten Menschen eine zentrale Rolle spielt „Was nicht unter die Haut geht kann nicht verankert werden und wird somit auch nicht gelernt!(Huther 2009).“

Das Nachmittagsprogramm gestalteten umfangreiche Workshops zu unterschiedlichen Themen, zu denen die Tagesmoderatorin Claudia Kerzinger-Stutz, BBW Sozialdienst, alle Gäste aufrief teilzunehmen:

1. Fallvignette aus therapeutische und bindungstheoretischer Sicht
Dr. Lothar Unzner, Andrea M. Fischer Psychotherapeutin (KJP)
2. Vom Einzel- um Gruppensetting
Prof. Dr. Andrea Kerres
3. Verstehen und Verstanden werden – Kommunikation ist mehr als Sprache
Susanne Lux, Soz. Päd.; Annette Wydra, Dipl. Soz. Päd. (FH); C. Kühnstetter, Psycholinguist (M.A.)
4. Boden bereiten – Heimat ermöglichen
Verena Temme, Erzieherin und Gruppenleiterin; Sandra Riedl, Dipl. Soz. Päd. (FH)
5. Bewegung im Dialog am Beispiel „Escrima“ Philippinische Stockkampfkunst
Franz Jäger, Dipl. Sportl. (Univ.); Birgit Luhede, Dipl. Heilpäd. (FH)
6. Traumatherapie im ISK Wasserburg
Susanne Koch, Ärztin für Psychiatrie, ISK Wasserburg

Mit vielen neu gewonnenen Eindrücken und Informationen sowie positiven Rückmeldungen endete der Fachtag.

Sabine Sedlmaier